Das erste Kapitel (ca. 25 S.) beginnt mit der Beobachtung, dass die Eindeutigkeit sprachlicher Äußerungen im Grunde einen Ausnahmefall darstellt, nämlich wenn man ihr die prinzipiell vielfältige Ausdeutbarkeit aller Ereignisse entgegenhält, mit denen wir in der nichtsprachlichen Wirklichkeit konfrontiert sind, ganz zu schweigen von Fällen sprachlicher Mehrdeutigkeit. Dabei stellen Mehrdeutigkeit und Ausdeutbarkeit von Ereignissen für uns aber in der Regel gar keine praktischen Probleme dar und werden in den seltensten Fällen überhaupt bemerkt. Warum uns das Verstehen im Angesicht der Mehrdeutigkeit so mühelos gelingt, stellt also zunächst die Kernfrage dar. Hierin werden bereits die späteren anthropologische Thesen vorgebahnt: Um den Begriff des Interpretierens und Verstehens lebensweltlich zu verankern, mache ich deutlich, dass unsere Interpretationen von Wahrgenommenem stets an unserem Verhalten und Handeln ausgerichtet sind und kognitive und leibliche Aktivitäten in einem wechselseitigen Dienstverhältnis stehen. Wie wir etwas deuten, hängt unter anderem davon ab, ob und inwiefern es relevant für unsere Handlungspläne ist (Pertinenz) oder ob es von sich aus unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht, weil es vitale Bedeutung für uns hat (Salienz). Ich präsentiere die Hauptthese des Buchs und skizziere die dazugehörige Korpusstudie in ihren Eckdaten. Die These besagt, dass mehrdeutige sprachliche Äußerungen allein (!) dadurch richtig verstanden werden können, dass sich Interpret·innen an den relativen Belebtheitswerten der Ereignisteilnehmer·innen orientieren, die sich diesbezüglich hierarchisch ordnen lassen („Belebtheitshierarchie“). Die Hypothese wird an Bibelübersetzungen aus der englischen und deutschen Sprachgeschichte überprüft, da nur für solche Paralleltexte auch sicher ist, welche die richtige Interpretation der darin vorkommenden mehrdeutigen Äußerungen ist. Ich beende das Einleitungskapitel mit dem Plan für den Rest des Buches und der Vorstellung der Bibeltexte.
Das zweite Kapitel (ca. 150 S.) startet mit der Erörterung, wie es überhaupt möglich ist, dass jemand seine privaten Vorstellungen mittels Sprache so öffentlich machen kann, dass sie für jemand anderes bezüglich ihrer „Eckdaten“ – Was steht womit in welcher Beziehung? – aus der Äußerung herausgelesen werden können. Aus dieser gewissermaßen naiven Perspektive heraus entwickle ich den Begriff einer überindividuellen sprachlichen „Eigenstruktur“ (= Grammatik), die in einem komplexen Spannungsverhältnis zur vorsprachlichen und individuellen Vorstellungswelt des Menschen steht. Sprachen bedienen sich dieser vorsprachlichen Vorstellungswelt, da sprachliche Äußerungen theoretisch als „Instruktionen“ begriffen werden können, sich etwas vorzustellen. Bestimmten Merkmalen der sprachlichen Eigenstruktur kommt hierbei eine besondere instruktive Bedeutung zu: grammatische Morpheme (Kasus, Kongruenz) und grammatikalisierte Reihenfolgeregelungen. Sie dienen Interpret·innen als instruktive Hinweise darauf, wie sie ihre durch Lexeme ausgedrückten Vorstellungen zu einer komplexen Vorstellung zusammenfügen sollen. Ich illustriere an sprachlichen Beispielen, auf welche Weise die eigenstrukturellen Hinweise zu sprachlicher Eindeutigkeit führen, nämlich dann, wenn sie als instruktive Hinweise verfügbar und aussagekräftig sind. Fehlende Aussagekraft (etwa durch Synkretismus) oder Unverfügbarkeit morphologischer Markierungen bzw. syntaktischer Regelungen führen entsprechend dazu, dass Äußerungen nicht eindeutig zum Aufbau von Vorstellungen instruieren. Die Beziehung der eigenstrukturellen Hinweise zueinander diskutiere ich anschließend im Forschungsüberblick vor dem Hintergrund der untersuchten Sprach(stuf)en. Hier kommen sprachhistorische, psycholinguistische und methodische Aspekte zur Geltung. In der Korpusstudie untersuche ich dann die Ausprägung der eigenstrukturellen Hinweise in den einzelnen Sprachstufen. In allen Sprach(stuf)en ergeben sich nicht unerhebliche Anteile an grammatisch mehrdeutigen Äußerungen – bis zu ¼ aller untersuchten Sätze. Damit sind zunächst die Voraussetzungen der Hypothese erfüllt. Im Zuge der jeweiligen Sprachgeschichten nehmen die Mehrdeutigkeiten zudem zu. Dennoch sind die Äußerungen für die jeweiligen Muttersprachler·innen problemlos richtig interpretierbar.
Dies leitet ins dritte Kapitel über (ca. 50 S.): Nachdem ich die eigenstrukturellen Hinweise Morphologie und Reihenfolge sprachhistorisch zunehmend als unverfügbar und nicht aussagekräftig für die Interpretation ausgewiesen habe, eruiere ich hier, warum es Interpret·innen in der Regel unbewusst und mühelos gelingt, mehrdeutige Äußerungen richtig zu verstehen und welche „außergrammatischen Hinweise“ sie auf Satzebene heranziehen könnten, damit ihnen dies gelingt. Unter mehreren Kategorienkandidaten ermmittle ich die Belebtheit und die Akzessibilität von Referenten als die vielversprechendsten heraus. Ich präsentiere zunächst überblicksartig, aber an konkreten Phänomenen bekannte Effekte dieser Kategorien in der Sprache, um dann im zweiten Teil der Korpusanalyse die Hypothese im engeren Sinne zu testen. Es stellt sich heraus, dass Belebtheit der zuverlässigere Hinweis auf die richtige Interpretation ist als Akzessibilität, aber dennoch in einigen Fällen in die Irre führt. Daraufhin entwickle ich eine revidierte Hypothese, in der ich Belebtheitsinformationen mit (nicht grammatikalisierten) Reihenfolgehinweisen auf bestimmte Weise kombiniere. Die revidierte Interpretationsstrategie erweise ich dann im dritten und letzten Teil der Korpusanalyse als die effektivste: Ohne es zu merken, also automatisch oder routinisiert, können Interpret·innen mehrdeutige Äußerungen in über 95% der Fälle als richtig interpretieren, indem sie außergrammatische Belebtheits- und Reihenfolgehinweise als instruktiv behandeln.
Im vierten Kapitel (ca. 80 S.) präsentiere ich dann eine anthropologische Skizze, in deren Rahmen ich eine Erklärung für die Wirksamkeit der Belebtheits- und Reihenfolgehinweise in der sprachlichen und nichtsprachlichen Interpretation anbiete. Vor dem Hintergrund meiner anthropologischen Erklärung erfolgt dann zuletzt die Neuinterpretation der Grammatik im menschlichen Selbst- und Weltverhältnis. Für die beiden Teilschritte führe ich verschiedene theoretische Linien auf Basis konvergierender Evidenz zusammen:
‒ den Weltoffenheitsgedanken und den Entlastungsgedanken der Philosophischen Anthropologie, nach denen der Mensch in seinen motorischen und Wahrnehmungsmöglichkeiten im Gegensatz zum Tier nicht fixiert ist, sich in der Folge aber durch Hand, Auge und Sprache von der phänomenalen Überbelastung entlasten muss;
‒ den Simulations- und den Instruktionsgedanken aus dem zweiten Kapitel, nach denen sprachliche Äußerungen jemandes Instruktionen sind, damit jemand anderes sich etwas vorstellt, und Vorstellungen simulierte Wahrnehmungen sind;
‒ den Uexküll’schen Funktionskreis, den ich in Anwendung auf den Menschen in einen salienzbasierten Verhaltenskreis und einen pertinenzbasierten Handlungskreis differenziere, wobei Ersterer in Letzeren eingebettet ist;
‒ den Gedanken, dass der Mensch ein prädiktives Wesen ist und, um sein Wohlergehen und seine Handlungsfähigkeit zu sichern, jederzeit seine Wahrnehmungen automatisch dahingehend auswertet, was als nächstes passieren wird; und zuletzt
‒ die Hierarchisierung von Lernformen, derzufolge beim Menschen solche Aktivitäten, die auf höheren Lernformen (z.B. operante Konditionierung) beruhen, andere Aktivitäten, die auf niedrigeren Lernformen (z.B. Instinktverhalten) beruhen, überformen können.
Daraus ergibt sich das folgende Bild: Die Äußerungen anderer stellen für Interpret·innen Widerfahrnisse dar; sie erwarten vielleicht, mit Äußerungen konfrontiert zu werden, sie kennen aber im Vornherein nicht die simulierten Wahrnehmungen, zu denen sie instruiert werden. Die simulierten Wahrnehmungen sind somit salient für sie. Weil Menschen aber jederzeit so schnell wie möglich die Ursache eines Ereignisses zu identifizieren trachten – gleich, ob es sich um wirklich wahrgenommene oder sprachlich vermittelte, simulierend wahrgenommene Ereignisse handelt –, machen sie instinktiv von den entsprechenden Hinweisreizen Gebrauch. Dies sind bei grammatisch mehrdeutigen Äußerungen: genau die Belebtheits- und Reihenfolgehinweise, die sich in der Korpusstudie als effektiv erwiesen haben. Hohe Belebtheit und frühes Auftreten sind inner- und außerhalb der Sprache Hinweise auf (Ver)Ursache(r·inne)n von Ereignissen. Sie zu identifizieren hat vitalen Wert für den Menschen, weil ein Ereignis zu simulieren in phänomenaler Hinsicht gleichrangig damit ist, das Ereignis tatsächlich wahrzunehmen: Die eigenen vitalen Funktionen und die Handlungsfähigkeit müssen in beiden Fällen maximiert werden. Daher erfolgt die richtige Interpretation auch unbewusst und mühelos, kurz: automatisch, und bedarf keiner besonderen Deutungsarbeit. Die Wirksamkeit der außergrammatischen Hinweise gehört zum vorsprachlichen humanökologischen Unterbau. Damit sind die Effekte, die in der Hypothese behauptet wurden, erklärt.
Die funktionale Neueinordnung der Grammatik ergibt sich, indem man den Blick nun vom menschlichen Umgang mit Mehrdeutigkeit wieder auf seinen Umgang mit Grammatik richtet, d.h. wenn man die eigenstrukturellen Hinweise Morphologie und grammatikalisierte Reihenfolgeregelungen wieder in den Blick nimmt: Die Erwartung, dass höhere Belebtheit und frühere Position mit den (Ver)Ursache(r·inne)n von Ereignissen korrelieren, tragen Interpret·innen nicht nur in die Interpretation grammatisch mehrdeutiger, sondern auch in die Interpretation grammatisch eindeutiger Äußerungen mit hinein. Damit aber werden die außergrammatischen und die eigenstrukturellen Hinweise zu konkurrierenden Reizen. Die eigenstrukturellen Hinweise können außergrammatisch motivierten Erwartungen, die sich aus der Konstitution des Menschen und seinem Weltverhältnis ergeben, entweder bestätigen oder ihnen widersprechen. Der entscheidende Punkt dabei: Eigenstrukturelle Hinweise sind gegenüber außergrammatischen Hinweisen stets verbindlicher. Sie haben also Stattgabe- bzw. Vetopotenzial diesen gegenüber. Der Grund dafür ist, dass eigenstrukturelle Hinweise anders gelernt werden. Ihren Instruktionen zu folgen, beruht auf operanter Konditionierung, während die Instruktivität der außergrammatischen Hinweise instinktiv ist. Erstere sind ontogenetisch erworben, Letztere phylogenetisch ererbt. Höhere Lernformen wie Konditionierung haben aber (beim Menschen) gegenüber niedrigeren wie dem Instinkt Vetopotenzial. Ohne das Veto würden die instinktiven Prozesse einfach „durchlaufen“. So aber können die höheren Lernformen das Instinktverhalten hemmen. Entsprechend rekonstruiere ich den Menschen als animal symbolis interveniens: als Lebewesen, das mittels grammatischer Zeichen gegen die Suggestionen aus seinem Inneren intervenieren kann.
Auf diese Weise führe ich im Buch die Einsichten der symbolphilosophischen (Bühler, Cassirer, Schwemmer) und philosophisch-anthropologischen (Plessner, Gehlen) Sprachtheorien mit zentralen Ergebnissen der modernen empirischen Linguistik zur Grammatik und Interpretation zusammen. Am Ende steht eine anthropologische Neueinordnung von Grammatik und Sprachverstehen – ein linguistisch-anthropologischer Entwurf, der zugleich die Sprachtheorie der Philosophischen Anthropologie bis ins grammatische Grundgerüst der Sprachen hinein vertiefend wiederaufnimmt und der modernen gebrauchsbasierten kognitiven Linguistik den anthropologisch-erkenntnistheoretischen Unterbau anbietet, der ihr bislang fehlt.
(c) Simon Kasper
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